Ich bin in die Kirche gegangen, um eine Kerze anzuzünden und um in der Stille zu sein. Und um Gott zu fragen, ob er verrückt ist. Ein Gott, der Menschen mitten aus dem Spiel nimmt, ohne Vorankündigung, in einem Alter, wo sich die ganze Mühe endlich auszuzahlen beginnt, wo das Studium vorbei ist, wo die Erfolge eintrudeln, wo es besonders cool ist, zu leben. Wer braucht einen Gott, der sowas macht?
Gott hat gemeint, das ist nicht seine Schuld. Er kann nichts dafür. Er ist nicht dafür zuständig, er hat nicht die Macht, Menschen aus dem Spiel zu nehmen.
Ich habe ihm vorgehalten, dass das vollkommen lächerlich ist, eine Ausrede.
Gott hat gesagt, dass ich genau weiß, dass er nicht allmächtig ist, dass er das auch schrecklich findet, dass er nicht Menschen aus ihren Familien reißen würde.
Meine Schwiegermutter hat mir gestern am Telefon gesagt, dass sie glaubt, dass eine Mutter ihr Kind in irgendeiner Form weiterbegleiten kann. Dass mit dem Tod nicht die Fürsorge vorbei ist.
Die Kerze habe ich für meine Schwägerin angezündet, die aus dem Spiel genommen wurde, wie eine Schachfigur. Zuerst habe ich mir gedacht, „bist Du deppert, mitten aus dem Leben gerissen.“ Dann habe ich mir gedacht „Naja, Zeit für Angst hatte sie nicht und sie hat aus dem Vollen geschöpft. Es ist an Arschigkeit kaum zu toppen. Vielleicht wäre es aber noch mehr urarsch, depressiv in einer Ecke zu sitzen und plötzlich zu sterben. Da ist es ja noch vergleichsweise besser mitten aus einer großen Lebendigkeit in die Anderswelt zu knallen.“ Gott hat gefunden, dass er den Gedankengang mag. Er mag, wenn wir hier intensiv leben, uns was trauen und unsere Träume leben. Er nimmt für sich in Anspruch, uns mit unseren Gedanken, Lieben und Träumen zu erschaffen.
Ich hab Gott gesagt, er muss jetzt nicht so herumschleimen, weil wie wird das für die Menschen rundherum sein? Das ist ja gar nicht packbar, wenn jemand so plötzlich geht. Das kann man ja gar nicht realisieren. Ausnahmslos jeder, sogar die, die sowas selber erlebt haben, sind geschockt und fassungslos.
Gott meint, dass es noch die andere Seite gibt. Gott meint, dass meine Schwiegermutter Recht hat. Eine Mutter kann ihr Kind noch begleiten, auch wenn sie unvermittelt in die Anderswelt geplumpst ist. Gott hat gemeint, dass ich mich doch umschauen soll und mir die vielen Geschichten, die ich schon gehört habe, durch den Kopf gehen lassen soll. Und all das, was ich schon selber erlebt habe. Menschen wirken nach.
Ich sage, Gott, ich weiß das. Ich weiß es, dass es ein bei-Dir-Sein gibt. Ein Teil von mir ist überzeugt davon, dass das Jenseits hier im Diesseits ist, dass wir es nicht sehen, dass wir es aber spüren, wenn wir still werden. Ich kann es ja selber spüren, wenn ich still werde und Ruhe in mein Herz kommt. Aber der größere Teil von mir ist ein Mensch. Und als solcher will ich das nicht. Auch wenn alte Menschen ebensowenig sterben wollen wie junge, so macht mich der Tod nach einem gelebten Leben weniger fassungslos, bestürzt und empört, als der von jungen Menschen. Vielleicht weil junge Menschen näher bei mir sind, weil ich es ja auch sein könnte, die … Da sind noch so viele Pläne! Gott schweigt.
Ich sage Gott, dass ich in die Stille will. Ich will das verstehen. Ich will verstehen, wie wir leben können sollen, wie das Leben gemeint sein kann, wenn wir es nicht zu Ende leben dürfen. Gott wirft ein, was das heißen soll „zu Ende leben“, wieso ich so eine genaue Vorstellung habe, wie das „Ende“ zu sein hat. Immer alt und krank und bereit zu gehen, weil es hier auf Erden schon so mühsam ist? Vielleicht muss man nicht erst gehen, wenn es Mühsal ist. Ich antworte, dass das zynisch ist.
Gott sagt, dass er es nicht zynisch meint. Gott sagt, er findet es gut, in die Stille zu gehen, wahrzunehmen, wie die Menschen mit dem Tod zurechtkommen und wie es mir damit geht. Und er findet es gut, dass ich das Leben verstehen will. Er meint, dass es diese Zweiseigkeit immer geben wird. Das Entsetzen. Die Trauer. Den Schmerz. Und die Hoffnung darauf, dass es ein Größeres gibt. Und dass Menschen nachwirken. Dass jemand weg ist, bedeutet nicht, dass er nicht da gewesen ist. Alles was jemand gesät hat, bleibt, geht nicht verloren.
Ich vertage das Gespräch. Ich kann nicht mehr, bin müde. Ich weiß, dass es das andere gibt. Aber ich mag nicht, dass das Leben so brutal ist.