Wenn das Weizenkorn…

… nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Johannes 12,24

Das war der Predigttext heute und als ich den Satz am Sonntagsgruß las, musste ich an folgende Geschichte denken, die Geschichte vom Gärtner und dem Sonnenblumkern.

In einem Lagerschuppen nahe einem Garten lebte einmal ein zufriedener Sonnenblumenkern. Vielleicht wäre er dort alt geworden, wenn ihn nicht eines Tages der Gärtner entdeckt hätte, um ihn einzupflanzen.

„Es ist an der Zeit“, sagte er zu ihm. „Heute ist die Stunde gekommen, dein Leben kennenzulernen – ein anderes, ein erfülltes Leben.“

„Deine rätselhaften Worte machen mir Angst, Gärtner“, entgegnete der Sonnenblumenkern mit zitternder Stimme. „Das Leben kennenzulernen scheint mir nicht so verheißungsvoll zu sein, wie du es sagst. Es ist so ungewiss, was aus mir werden wird.

Stimmt es denn, dass man in die tiefe, dunkle Erde muss und begraben wird? In dem Lagerschuppen, in dem ich bisher lebte, war ich bei meinen Freunden und fühlte mich geborgen.“

„Du wirst dein Leben in dieser geschützten, engen Umgebung nicht finden. Dein Leben will entdeckt und gelebt werden. Du wirst dich auf die Suche machen müssen, sonst bleibt du gefangen. Dein Leben würde nie in dir aufbrechen und keimen, wenn du so bleiben willst, wie du jetzt bist. Du wirst es nur finden, wenn du das Wagnis des Wachstums auf dich nimmst. Hab Vertrauen! Das Leben ist größer und schöner als deine Angst.“

Aber wenn du mich eingräbst, dann sterbe ich in der dunklen Erde.“

„Im Dunkel der Erde wird dein neues Leben wachsen. Du stirbst und du wirst verwandelt.“

„Leben bedeutet nicht zuerst `sein´ sondern werden, wachsen und reifen. In dir steckt noch viel mehr, als du jetzt sehen und spüren kannst. Du bist ein Kern voll blühender Zukunft, voller Lebensmöglichkeiten, die tief verborgen in dir schlafen und darauf warten, geweckt zu werden.“

„Aber das Licht der Sonne ist doch genug, um meine Lebenskraft zu wecken? Warum muss ich in das Dunkel der Erde gelegt werden?“

„Dein Leben ist ein Geheimnis. Du musst dich selber loslassen und etwas wagen, wenn dein Leben sich in seinem Reichtum entfalten soll.“

Nachdem er dies gesagt hatte, grub der alte Gärtner ein Loch und legte den Sonnenblumenkern in die Erde.

„Jetzt ist es bald zu Ende mit mir. Es hätte so schön sein können, aber nun vergeht mein Leben in der Erde,“ dachte der Sonnenblumenkern.

Allmählich merkte der Kern, wie sich tief in seinem Inneren etwas regte und bewegte, von dem er nicht sagen konnte, was es war. Dieses Gefühl versetzte ihn in Unruhe. Nach einigen Tagen durchfuhr ihn ein Schmerz. Dies eröffnete ihm einen neuen Lebensraum. Der Panzer seines bisherigen Lebens war durchbrochen. Der Trieb hatte die Hülle durchdrungen.

„Das also meinte der Gärtner mit Wachstum und Entfaltung! Wachstrum betrifft also das ganze Wesen. Wachstum bedeutet, die Schale zu durchbrechen, damit sich der Kern, das Innerste entfalten kann.“

Sanft streichelten die Sonnenstrahlen den hellgrünen Trieb, der durch den Erdboden stieß und unter den Zärtlichkeiten der Sonne wuchs. Einfühlsam lockten ihn die warmen Strahlen zum Leben. Mit der Zeit bildeten sich immer neue Blätter.

„Bald wirst du ganz offen sein für das Lächeln der Sonne, für die Vögel, für den Wind und den Regen. Du wirst blühen, kleine Blume, und es wird keine einzige Blume im großen Garten geben, die so ist wie du. Dann kannst du deine Kerne weitergeben, und es wird neues Leben wachsen,“ sagte der Gärtner.

Langsam und vorsichtig tastend streckte die Sonnenblume ihre gelben Blütenblätter bis in die letzten Fasern. Ein unbekanntes Glückgefühl durchströmte sie.

Sie fühlte sich leicht wie das Licht und zugleich schwer wie die Erde. Sie spürte, dass Himmel und Erde als eine große Wirklichkeit zusammengehören. Und die Sonnenblume dachte an die Worte des alten Gärtners: was in uns verborgen liegt, wird entfaltet werden.

Predigttext vom 1. Februar 2009 – Matthäus 17, 1-9

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